Okt 24, 2017

Vorläufige Gedanken zum Thema "geschlechterneutrale Sprache"


Die Frage, wie man mit der sprachlichen Asymmetrie des generischen Maskulinums umgeht, hat meiner Erfahrung nach ein erstaunlich hohes Potential zu Emotionalisierung. In diesem Text versuche ich meine eigene Position zum dem Thema möglichst rational darzulegen - in vollem Bewusstsein, dass es respektable intelligente Menschen gibt, die anderer Meinung sind.

Vermutlich aus historischen Gründen hat die deutsche Sprache, wie viele andere auch, eine Entwicklung genommen, in der es üblich ist, bei konkreten Individuen zwischen weiblichen und männlichen Formen (z.B. Lehrerin/Lehrer) zu unterschieden, aber im Plural oder im allgemeinen Fall nicht: "die Lehrer sitzen im Lehrerzimmer". Der gleiche Effekt tritt bei vielen Substantiven auf (Arbeiter, Arzt, Nutzer, Politiker, Schauspieler, Ingenieur, Friseur, Kanzler, usw.).

Ausgehend von dem normativen Axiom, dass Menschen unabhängig von ihrem biologischen Geschlecht die gleichen Rechte haben, ist diese Asymmetrie für mich unbefriedigend. Einerseits werden damit meine formalen Ansprüchen an eine überzeugende Sprachlogik nicht erfüllt. Viel wichtiger aber finde ich die realen Konsequenzen: Sprache hat einen erheblichen Einfluss auf die menschliche Wahrnehmung der Realität und damit, über den Umweg individueller Entscheidungen, auf die Entwicklung der zukünftigen objektiven Realität. Nicht umsonst sind viele Begriffe politisch stark umstritten ("Terrorist*in" vs. "Freiheitskämpfer*in").

Die geschlechterbezogene sprachliche Asymmetrie hat, meiner Kenntnis nach starken Einfluss darauf, ob und wie Frauen im öffentlichen Leben wahrgenommen werden und damit mittelbar auf gesellschaftlich verbreitete Rollenbilder (Quelle). Um es plakativ runterzubrechen: die Frage, ob ein sechjähriges Mädchen 20 Jahre später einen Abschluss in Elektrotechnik oder als Fleischfachverkäuferin hat, hängt auch damit zusammen, wie "normal" ein entsprechendes Rollenbild ist - darauf hat der übliche Sprachgebrauch meines Erachtens eine erhebliche Auswirkung.

Ich möchte hier nicht verschiedene Berufe wertend vergleichen. Ich nehme nur zur Kenntnis, dass ein abgeschlossenes "Ingenieur-Studium" typischerweise mit mehr Anerkennung und Einkommen verbunden ist, als eine Einzelhandels-Ausbildung. Abgesehen davon halte ich es für wahrscheinlich, dass strukturelle "sprachliche Unsichtbarkeit" sich auch auf das Selbstwertgefühl und damit auf das Wohlbefinden negativ auswirken.

Vor diesem Hintergrund halte ich die unreflektierte Verwendung des (sog.) generischen Maskulinums für problematisch. Allerdings bin ich auch von den verfügbaren Alternativen nicht wirklich überzeugt, hauptsächlich aus ästhetischen Gründen. Tatsächlich habe ich aber festgestellt, dass diese intuitive Ablehnung mit der Zeit nachlässt - d. h. man gewöhnt sich schlicht daran. Am saubersten wäre vermutlich eine Streichung des grammatikalischen Geschlechts, schließlich trägt es keine relevante Information (der Mond, die Sonne). Da eine solche radikale Sprachreform aber einen Genuss von Literatur für Jahre oder Jahrzehnte unmöglich machen würde, wäre ich - bei allem formalen Charme dieses Ansatzes - eher dagegen. Etwas weniger invasiv und unrealistisch wäre die Neueinführung zusätzlicher grammatikalischer Strukturen, z.B. "das Lehree" (eine geschlechtlich nicht spezifizierte Person, die beruflich an Schulen unterrichtet) oder "das Lehreezimmer". Klingt zunächst komisch, aber ich denke, man könnte sich dran gewöhnen. Nichtsdestotrotz bleibt es utopisch.

Unter den sämtlich wenig zufriedenstellenden Optionen (Problem ignorieren, Binnen-I, Beidnennung, Gender-Stern, Gender-Lücke, ...) wähle ich inzwischen in aktiv von mir verfassten Texten und Lehrmaterialien meist die Sternchen-Schreibweise, wobei je nach Kontext, Einstellung der Koautor*innen, und Zielgruppe ein lokales Ignorieren des Problems aus pragmatischen Gründen nicht ganz unwahrscheinlich ist.

Update: Einen interessanten Vortrag zu dem Thema von Anatol Stefanovitsch gab es schon auf der 2012er Jahrestagung des Chaos Computer Club, [Link].

Eine gänzlich andere Position nimmt z. B. der Verein der Deutschen Sprache ein, [Link]. (Hauptsächlich ästhetische Gegenargumente).