Softwareunterstützung kontroverser Diskussionen
Der folgende Text entstand im Dezember 2021 als Mail an die deutschsprachige Mailingliste der FSFE.
Hallo FSFE-Liste,
da in den letzten Tagen ein erhöhtes Mailaufkommen auf dieser Liste rund um Meta-Themen stattgefunden hat, würde mich mal Eure Meinung zu folgenden (subjektiven) Thesen interessieren:
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Textbasierte und asynchron ablaufende Diskussionen (z.B. über Mailinglisten) zu kontroversen Themen haben ein erhebliches Frustrationspotential.
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Kontroverse und zugleich sehr wichtige Themen gibt es zahlreiche auf gesellschaftlicher Ebene (Freiheitsrechte vs. Pandemiebekämpfung, Freiheitsrechte vs. Kriminalitätsbekämpfung, Digitalisierung in der Bildung, Bewaffnung von Drohnen, ...) und auch innerhalb der Freien-Software-Community (Lizenz A vs. B, Projekt X vs. Fork Y, etc.)
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Ein Großteil der suboptimalen und objektiv falschen Entscheidungen in Politik und Gesellschaft ist auf die Dysfunktionalität der vorangegangenen Diskurse zurückzuführen. Beispiel: Luca-App. Ebenso ein Großteil der Konflikt-bedingten "Reibungsverluste" z.B. in Software-Projekten.
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Typische Szenarien kontroverser Diskussionen sind:
- ergebnisloses im-Sande-Verlaufen
- Wegdriften vom ursprünglichen Thema
- offener Streit und Abbruch der Kommunikation
- Neubeginn nach längerer Pause mit stark unterschiedlichem Kenntnisstand der bisherigen Diskussion
- Vermeidung einer breiten (und anstrengenden) Diskussion und autokratische Entscheidungsfindung.
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Das wünschenswerte Szenario wäre dagegen:
- gemeinsames Zusammentragen der jeweiligen Pro- und Kontra-Argumente
- Übersichtliche Darstellung des aktuellen Standes des Argument-Baumes
- nachvollziehbare Quellenangaben für externe Information
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Die bisher genutzten Software-basierten Medien (Mailinglisten, Chatgruppen, Foren, Wikis, Threads auf Twitter oder Mastodon, Kommentare unter Medien-Beiträgen oder in Blogs) unterstützen dieses wünschenswerte Szenario deutlich zu wenig.
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Die konkrete Funktionalität einer Kommunikations- und Dokumentationssoftware kann einen massiven (positiven) Einfluss auf die Art und das Ergebnis der Kommunikation haben. Beispiel: Stackoverflow-Prinzip statt klassischer Programmier-Foren.
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Relevante Kommunikationssoftware sollte frei sein und ohne viel Aufwand von Individuen und (zivilgesellschaftlichen) Gruppen ausgerollt und genutzt werden können.
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Die Freie-Software-Communitiy sollte eine zweckmäßige Lösung entwickelen und deren Nutzung propagieren. Im eigenen und im gesellschaftlichen Interesse.
Dieses ganze Thema beschäftigt mich schon eine ganze Weile. Auf dem 35C3 (2018) habe ich einen Lightningtalk dazu gehalten:
https://media.ccc.de/v/35c3-9568-lightning_talks_day_4#t=198
Einen ersten Implementierungsversuch einer eigenen Umsetzungs-Idee dazu gibt es unter: https://github.com/cknoll/django-sober, aber ich bin mir bewusst, dass dieser Ansatz noch nicht überzeugend ist und ggf. auch nie sein wird.
Aber mal ganz grundsätzlich:
Mich wundert, dass es für die aus meiner Sicht so offensichtlichen Missstände ("Alles was scheitert, scheitert an Kommunikation") bisher keine (mir bekannten) guten und vor allem systematischen Lösungen zu geben scheint.
Wie seht Ihr das?
Hätte jemand Lust und ggf. ein paar Ressourcen (Zeit, Kompetenz, Geld, Kontakte, Reichweite), sich mittelfristig diesem Problem mit anzunehmen?
Ich sehe da sowohl großes Potenzial als auch massive Notwendigkeit.
Gruß, Carsten
Die Resonanz auf der FSFE-Liste würde ich mit "kritischem Interesse einiger Individuen" zusammenfassen. Wie für Mailinglisten üblich, ist die Diskussion aber nach ein paar Tagen ergebnislos eingeschlafen. Off-List habe ich einen interessanten Hinweis auf ein ähnliches Projekt des CCC bekommen. Leider ist das auch inaktiv.
Ich stelle den Text in das Blog um mehr Sichtbarkeit für die Idee zu ermöglichen. Feedback gerne an mich.