Kritische Gedanken zur deutschen Rechtschreibung (+Reformforzlag)
Die Rechtschreibung in der deutschen Sprache ist (anders als z.B. im Englischen oder Französischen) einigermaßen "logisch". D.h. es gibt für viele Laute Regeln, die eine eineindeutige Zuordnung zwischen Schreibweise und Aussprache ermöglichen. Leider gibt es aber zu diesem Regelsystem eine erhebliche Anzahl an Ausnahmen, welche insgesamt den Umgang mit der Sprache erschweren. Dieser Beitrag liefert eine Problemanalyse und stellt darauf basierend einen umfassenden Lösungsvorschlag zur Diskussion.
Problem: Mehrdeutige Zusammenhänge zwischen Schreibweise und Aussprache
Von der anzustrebenden Situation eines in beide Richtungen eindeutigen Zusammenhangs zwischen Aussprache und Schreibweise sind einige Buchstaben bzw. Laute erheblich entfernt. Tatsächlich gibt es drei unterschiedliche Probleme:
Problem 1: Ein Buchstabe (bzw. eine Kombination) kann für mehrere Laute stehen.
Beispiele:
- Cäsar vs. Cindy vs. Camembert
- Dach, lieblich vs. Chemnitz
- Vogel, Vase
- Bürste, Stern
- raspeln, sprechen
Problem 2: Ein Laut wird durch mehrere verschiedene Buchstaben (oder Kombinationen) repräsentiert
- Vokaldehnung (Waal, Wahl, Steg, steh!, Klee, Nil, Ziel, Vieh, ihnen, Boot, Bohne, Uhzeit, Urzeit)
- kurzer Vokal (meist durch Verdopplung des nachfogenden Konsonant, aber nicht immer: Fett, Kelle, Fleck, weg, das)
- "AI-Laut" (Seite, Saite, Bayern)
- "TS-Laut" (Cäsar, Zirkus, rechts)
- "F-Laut" (fliegen, Vogel, Phase)
- "I-Laut" (Zisterne, System)
- "K-Laut" (kalt, Camembert, Chemnitz, Quark)
- "KS-Laut" (Axt, Fuchs, Murks)
- "OI"-Laut (Konvoi, Freund, Bäume)
- "T"-Laut (Tee, Theorie)
- "stark zischender Laut" (Stadt, Sport, Schleife)
- "W-Laut" (Vase, Wahl)
Problem 3: Einige wichtige Laute haben keinen eigenen Buchstaben und werden nur durch Kombinationen anderer Buchstaben repräsentiert
- "asprierter Laut" wie in "Dach"
- "leicht zischender Laut" wie in "lieblich"
- "stark zischender Laut" wie in "Schleife"
Lösungsvorschlag:
Teil 1: Ersetzen überflüssiger Buchstaben
Einige Buchstaben sind aus phonetischer Sicht überflüssig und können durch andere Buchstaben oder eine Kombination ersetzt werden:
Buchtabe | Ersatz | Beispiele |
---|---|---|
c | ts, k | Cäsar → Tsäsar; Camembert → Kammembär |
q | kw | Quark → Kwark |
v | f, w | Vogel → Fogel; Vase → Wase |
x | ks | Axt → Akst |
y | i, ü | System → Sistem; Zyklus → Züklus |
z | ts | Zug → Tsug |
Teil 2: Repräsentation wichtiger Laute durch eigene eindeutige Buchstaben
Die dadurch frei gewordenen Symbole können teilweise für Laute verwendet werden, die keine eigenen Symbole haben:
Laut | neuer Buchstabe | Beispiele |
---|---|---|
asprierter Laut | c | Dach → Dac |
leicht zischender Laut | x | nicht → nixt |
stark zischender Laut | z | Schule → Zule; Sport → Zport; stehen → stehen |
Teil 3: Festlegung einer kanonischen Schreibweise für jeden Laut
- Vokaldehnung durch Vokahlverdopplung:
- Haan, Weeg, Miite, Woonung, Huun
- Wiiderztand und Wiiderhoolung
- Vokalverkürzung durch doppelten Konsonanten:
- dass (als Artikel), wegglassen, Flekk
- Aiersalat, Tonlaiter
- Fogel, Ferfolgung
- Fuks, fiks,
- Froind, Boime
- Sisteem
- Teorii
- Brawo
- Tsunge, Konsultatsion
Diskussion
Meine ich das ernst?
Ich bin überzeugt davon, dass in einer hypotetischen Parallelwelt, in der ceteris paribus die obigen Vorschläge die Ist-Situation wären, die deutsche Sprache deutlich einfacher zu lernen und zu benutzen wäre – sowohl für Kinder, die das Schreiben lernen, als auch für Menschen die mit einer anderen Muttersprache aufgewachsen sind und später Deutsch lernen. Ich bin außerdem überzeugt davon, dass in dieser hypotetischen Parallelwelt der Vorschlag, die weitgehende Eineindeutigkeit zwischen Aussprache und Schreibweise zu Gunsten unserer aktuellen Orthographie zu verändern (d.h. die obigen Vorschläge in umgekehrter Richtung anzuwenden), als völlig absurd und jeglicher Logik entbehrend eingestuft würde.
Ich bin mir aber auch im Klaren darüber, dass eine Umsetzung obiger Vorschläge aus mehreren Gründen völlig unrealistisch ist:
- Basierend auf dem bisherigen mündlichen Rückmeldungen im Bekanntenkreis zeichnet sich nicht ab, dass eine demokratische Mehrheit zur Durchsetzung in absehbarer Zeit erreicht werden könnte. Im wesentlichen werden ästhetische Gründe zur Ablehnung angeführt, sowie der Verlust der Sichtbarkeit der Wortherkunft (Etymologie).
- Sprache ist ein sehr emotionales Thema. Wenn man die teils aufgebrachten gesellschaftlichen Reaktionen auf die vergleichsweise zaghafte Rechtschreibreform von 1996 entsprechend der viel weitergehenden obigen Vorschläge extrapoliert, wären erhebliche gesellschaftliche Verwerfungen zu erwarten, welche die erhofften Vorteile (weniger Probleme mit Rechtschreibung im Alltag und in der Bildung) über Jahre hinweg überkompensieren würden.
- Der riesige Textkorpus der den bisherigen Orthographieregeln genügt, wäre ab dem Zeitpunkt der Umstellung eine "mentale Belastung" weil man im Alltag ständig mit Texten konfrontiert wäre, die den offiziellen (reformierten) Rechtschreibregeln massiv widersprächen.
- In der Zeit nach der Umstellung hätten alle Menschen, die schon lesen können einen erheblichen Umgewöhnungsaufwand zu leisten.
Analyse der faktischen Gegenargumente
Ungeachtet der "organisatorischen Gegenargumente" (gesellschaftlicher Widerstand, Textkorpus, Umgewöhnungsaufwand) sind die mir bisher bekannten inhaltlichen Gegenargumente nicht ultimativ überzeugend.
Verlust der Sichtbarkeit der Wortherkunft
- Dafür gibt es auch im Deutschen bisher schon reichlich Präzedenzfälle: Warum sollte z.B. "Zirkus" näher am lateinischen Original ("circus") sein als "Tsirkus"?
- Andere Sprachen sind sehr viel stringenter in der Anwendung des Prinzips konsistente Orthographie rechtfertigt Anpassung der Schreibweise. Der Satz "Die systemische Philosophie hat theoretisch eine hohe Qualität." lautet (laut dem Übersetzungsdienst deepl.com) in anderen Sprachen:
- Estnisch: "Süsteemne filosoofia on kõrge teoreetilise kvaliteediga."
- Spanisch: "La filosofía sistémica tiene una gran calidad teórica.
- Tschechisch: "Systémová filozofie má vysokou teoretickou kvalitu."
- Schwedisch: "Systemisk filosofi har en hög teoretisk kvalitet."
- ...
- Ist die Wortherkunft im Sprachalltag wirklich relevant? Der Hauptanwendungsfall ist meiner Beobachtung nach, um daraus abzuleiten wie ein Wort geschrieben wird – und dieses Problem erledigt sich mit den obigen Reformvorschlägen viel einfacher.
Ästhetik: ("Ix liibe dix." sieht hässlich und dumm aus)
Aus meiner Sicht ist das menschliche Ästhetikempfinden in Bezug auf Orthographie (und andere Spracheigenschaften wie z.B. Dialekte) ein Produkt der Gewöhnung. Hinzu kommt, dass "Rechtschreibfehler durch Nichtbeachtung von Sonderregeln" wie z.B. "Boime" statt "Bäume" typischerweise Kindern im frühen Grundschulalter unterlaufen und daher mit mangelnder Bildung assoziiert werden. Beide Aspekte sprechen zwar für erhebliche Widerstände im Prozess einer hypothetischen Umstellung, aber nicht grundsätzlich gegen den nach Abschluss dieses (hypothetischen) Prozesses erreichten Zustand (also nicht gegen die Vorschläge an sich).
Das Ästhetik-Argument ist aus meiner Sicht kaum mehr als ein Euphemismus für: "Wir machen das schon immer so!"
Perspektive
Wenn schon klar ist, dass diese (oder ähnliche) Vorschläge keine Chance auf eine Umsetzung haben, warum lohnt es sich dann, damit zu beschäftigen? Aus meiner Sicht aus folgenden Gründen:
- Überlegungen wie die obigen Analysen und Vorschläge lockern den Denkapparat, indem der Ursache eines Problems (z.B. "Kinder machen viele Rechtschreibfehler, was für Frustration sorgt") bis auf den Grund nachgegangen wird, natürliche von Menschen-gemachten Regeln unterschieden werden und die Menschen-gemachten auf ihren Sinn und ihre Zweckmäßigkeit hin untersucht werden.
- Die obigen Überlegungen schärfen die Wahrnehmung für sprachliche Besonderheiten, für Regeln und Ausnahmen und geben Anlass sich mit anderen Sprachen zu befassen. All das trägt zu einem besseren Verständnis von Sprache bei.
- Die obigen Überlegungen schärfen auch das Verständnis für Pfadabhängigkeiten: etablierte gesellschaftliche Konventionen die sich historisch nachvollziehbar entwickelt haben, die man aber aus heutigem Verständnis ganz anders gestalten würde (wie z.B. auch das QWERTZ Tastaturlayout).
- Eigene Sprachen und eigene Wörter zu erfinden macht Spaß, ist aber aufwendig. Dii obigen Forzläge biiten ainen Großtail des Zpaßes, aber macen viil weniger Aufwand.
Möglicherweise fallen die hier geäußerten Vorschläge auch bei einigen Leser:innen auf fruchtbaren Boden und es entsteht eine Community, welche einer logikbasierten Rechtschreibreform aufgeschlossen gegenübersteht. Durch den zunehmend digitalen Konsum von Texten ist es technisch mit überschaubarem Aufwand machbar, dass ein und der selbe Text wahlweise in konventioneller oder in reformierter Orthographie angezeigt wird. Solche und ähnliche Ansätze könnten einen Ausweg aus dem oben beschriebenen Dilemma sein, dass das Ziel zwar Vorteile verspricht, aber der (direkte) Weg dahin erhebliche Nachteile und Risiken birgt.
Schlussbemerkung
Ich bin kein Sprachwissenschaftler sondern Elektroingenieur. Aber genau so wie ich einen inhaltlichen Diskussionsbeitrag zur Energiewende von einer Person mit Lingustik-Hintergrund grundsätzlich für absolut legitim halte, nehme ich mir die Freiheit, mich zu eine lingusitischen Themen zu äußern. Siehe auch:
Die hier aufgeschriebenen Gedanken beschäftigen mich (mit stark schwankender Intensität) seit mindestens 10 Jahren. Mit ziemlicher Sicherheit sind die Vorschläge an manchen Stellen unvollständig, (bezogen auf die zu Grunde liegende Motivation) noch nicht ausgereift oder möglicherweise auch schlicht falsch. Mit ziemlicher Sicherheit sind sie auch nicht "neu" bzw. "originell", wobei mir leider keine Publikationen mit ähnlichen Vorschläge bekannt sind. Deshalb erscheint mir die Veröffentlichung als persönlicher Blogbeitrag sinnvoll.